Momentanreserve wird künftig marktlich beschafft
Essen (energate) - Die Beschaffung von Momentanreserve steht vor einem gewaltigen Umbruch. Mit dem Fortschreiten der Energiewende sinkt die Anzahl konventioneller Kraftwerke und damit das technische Potenzial für die Bereitstellung der Reserve - Alternativen sind gefragt. Daher hat die Beschlusskammer 6 der Bundesnetzagentur im April 2025 ein Konzept für die marktliche Beschaffung entwickelt. Dieses sieht vor, dass die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber im Januar 2026 die marktgestützte Beschaffung von Momentanreserve bekanntmachen. Es entsteht also ein neuer Markt, die Bereitstellung von Momentanreserve wird künftig vergütet.
Energiewende verlangt neue Beschaffungsformen
Momentanreserve ist eine nicht-frequenzgebundene Systemdienstleistung, die ein kurzfristiges Leistungsungleichgewicht im Stromnetz ausgleicht. Die Reserve wird nach wenigen Sekunden durch die Primärregelleistung abgelöst. Das verschafft Zeit, damit die Regelleistungsprodukte und andere Notfallinstrumente wirken können. Nach dem Stromausfall in Spanien tobte auch hierzulande eine Debatte, ob Windkraft- und PV-Anlagen schuld am Blackout waren. Denn traditionell haben konventionelle Kraftwerke mithilfe ihrer rotierenden Massen Blindleistung und Momentanreserve zur Verfügung gestellt. Da es sich um einen inhärenten Prozess handelt, wurde deren Bereitstellung bislang nicht vergütet. "Ausreichend Momentanreserve zur Verfügung zu haben ist insbesondere wichtig, um mögliche Systemsplits beherrschen zu können", erklärte Björn Gwisdorf, Experte für Regulierungsmanagement beim Übertragungsnetzbetreiber Amprion, im Gespräch mit energate.
Die marktgestützte Beschaffung der Reserve lasse sich "mit den Anfängen der Förderung erneuerbarer Energien vergleichen", ordnete Gwisdorf das Vorhaben der Bundesnetzagentur ein. "In den Anfängen des EEG hat man eine feste Einspeisevergütung erfolgreich zur Technologieförderung genutzt. Genau denselben Effekt erhoffen wir uns bei der Momentanreserve", erklärte der Fachmann. Denn die Bereitstellung von Momentanreserve aus erneuerbaren Energien ist zwar generell technisch möglich, wird aber bislang nicht genutzt. Das Hauptproblem: Die verbauten Wechselrichter müssen künftig nicht mehr netzfolgend, sondern netzbildend sein. Damit die Anlagenbetreiber die zusätzlichen Kosten auf sich nehmen, wird die Momentanreserve künftig marktbasiert beschafft. Dies sei "letztlich ein finanzieller Anreiz, um eine technische Durchdringung momentanreservefähiger Technologien anzureizen", so Gwisdorf.
Nicht Arbeit, sondern technisches Vermögen wird vergütet
Da sich die Erbringung nicht ohne Weiteres messen lässt, wird künftig nicht die erbrachte Momentanreserve-Arbeit, sondern das technische Vermögen der Anlagen vergütet. Diese technische Ertüchtigung wird dann über einen Festpreis verrechnet. Dabei soll die Ausstattung der Anlagen für die Betreiber nicht nur auskömmlich sein, sondern auch wirtschaftlich Sinn ergeben. "Wir verfolgen künftig den Grundsatz, Momentanreserve nur dann zu vergüten, wenn die Bereitstellung über das inhärente Maß und die technischen Mindestanforderungen und Anschlussrichtlinien hinausgeht", erklärte Gwisdorf. Der künftig zu vergütende Festpreis ist noch nicht beschlossen. Die Übertragungsnetzbetreiber haben dazu ein Gutachten beauftragt, welches im Herbst 2025 vorliegen soll. Der Amprion-Experte wollte sich daher auch nicht darauf festlegen, wie hoch die Kosten der Bereitstellung künftig ausfallen werden. Marktbeobachter äußerten gegenüber energate jedoch die Vermutung, dass es sich jährlich um einen zwei- bis dreistelligen Millionenmarkt handeln könnte. Gute Nachrichten gab es unterdessen für die Übertragungsnetzbetreiber. Am 11. August entschied die Bundesnetzagentur, dass künftig die Beschaffungskosten als dauerhaft nicht beeinflussbare Kosten gelten.
RWE bereitet sich auf Markthochlauf vor
Der neu entstehende Markt ist insbesondere für Betreiber von Anlagen interessant, in denen Wechselrichter verbaut sind - also PV-Anlagen und Batteriespeicher. Der Energiekonzern RWE stattet daher perspektivisch alle seine Speicher "intertia-ready" aus. "Indem RWE ihre Batteriespeicher inertia-ready auslegt, sind diese Anlagen in der Lage, an diesem entstehenden Markt teilzunehmen", erklärte im Juni ein RWE-Sprecher im Gespräch mit energate. In den Niederlanden hat der Konzern den nach Unternehmensangaben ersten Batteriespeicher mit Momentanreserve-Funktion im zentraleuropäischen Stromnetz in Betrieb genommen. Auch der geplante 600-MW-Großbatteriespeicher in Hamm wird in der Lage sein, die Reserve bereitzustellen.
Gwisdorf ging im Gespräch mit energate trotzdem davon aus, dass 2026 nur wenige Anbieter Momentanreserve liefern können. "Wir erwarten, dass wir im Jahr 2026 erst einmal sachte starten", so der Experte. Gleichzeitig antizipiere er, dass die technische Entwicklung in den kommenden Jahren exponentiell hochläuft. Perspektivisch werden "ein Großteil der Anlagen die technischen Voraussetzungen zur Bereitstellung von Momentanreserve" mitbringen, zeigte sich Gwisdorf optimistisch. Er befürwortete zudem den Ansatz, künftig Anforderungen an die Bereitstellung von Momentanreserve im Rahmen technischer Anschlussbedingungen für alle Anlagenbetreiber festzulegen. "Diese Anpassungsprozesse benötigen allerdings Jahre. Mit der marktgestützten Beschaffung haben wir die Möglichkeit, diese Lücke zu schließen." /rh