Industriepolitik droht zu Sammelsurium an Subventionen zu werden
Berlin (energate) - Industriestrompreis, Klimaschutzverträge oder Netzentgeltzuschüsse - das ist nur ein Teil der Subventionen und Vergünstigungen, mit denen der Bund derzeit versucht, die Industrie resilient gegen geopolitische Herausforderungen zu machen und sie beim Klimaschutz zu entlasten. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums sieht genau dieses staatliche Vorgehen kritisch. "Durch die Vielzahl an Fördermaßnahmen und Zielen besteht die Gefahr, dass die Industriepolitik zu einem Sammelsurium von Subventionen ohne wirtschaftspolitischen Kompass verkommt", mahnt das Gremium, welches das Bundesministerium in Fragen der Wirtschaftspolitik unabhängig berät. In dem neuen Gutachten "Industriepolitik in Europa" macht der Beirat nun Gegenvorschläge.
Netto-Null-Verordnung ist keine Option
Allen voran spricht sich der Beirat gegen das Ziel der Netto-Null-Industrie-Verordnung aus, bis 2030 mindestens 40 Prozent des jährlichen Bedarfs an sauberen Technologien, wie Wärmepumpen, Wind- und Solaranlagen oder Batterien, in Europa herzustellen. Die Regelung ist erst Ende Juni EU-weit in Kraft getreten und soll die Abhängigkeit von Importen, insbesondere aus China und den USA, verringern. Erreicht werden soll das unter anderem durch beschleunigte Genehmigungsverfahren, die Förderung spezieller Industriecluster, die Subventionierung von Investitionen und die verbindliche Vorgabe von Nachhaltigkeits- und Resilienzkriterien in der öffentlichen Beschaffung. Aus Sicht des BMWE-Gremiums reicht es nicht aus, die Subventionen damit zu rechtfertigen, dass die Technologien zur Dekarbonisierung beitragen.
Zum Beispiel werden standardisierte Solarpaneele in China sehr viel günstiger hergestellt. Eine bedrohliche Abhängigkeit von China ist allerdings nicht gegeben. Denn selbst wenn China die Lieferung von Solarpaneelen vollständig einstellen würde, würden die bereits gelieferten Paneele in Europa bleiben und weiter Strom produzieren, heißt es in dem Gutachten. Mit einer gewissen Verzögerung sei es zudem möglich, auf Solarpaneele aus anderen Herkunftsländern auszuweichen oder auch eine eigene Produktion aufzubauen. Die Technologie sei inzwischen gut verstanden und sehr weit ausgereift, sodass weitere Kostensenkungen unwahrscheinlich wären, so der Beirat weiter. Es gebe also auch keine Lernkurveneffekte, die eine Massenproduktion in Europa rechtfertigen würden. Schließlich sind Solarpaneele zu einem Standardprodukt geworden, mit dem sich keine Knappheitsgewinne erwirtschaften ließen. Wenn Europa 40 Prozent aller selbst verwendeten Solarpaneele herstellen würde, würde es lediglich die Kosten der Photovoltaik in Europa in die Höhe treiben und damit die Energiewende bremsen, ohne irgendwelche externen Effekte zu internalisieren, so das Fazit des Gutachtens.
Der Beirat sieht in der Netto-Null-Verordnung auch keinen Beitrag zur Versorgungssicherheit, stattdessen empfiehlt er, sichere Lieferketten für Güter mit folgenden drei Kriterien aufzubauen: Sie sind kurzfristig nicht oder nur sehr schwer substituierbar, sie sind konsumrelevant, und im Mangelfall würden diese Güter zwangsrationiert werden. Hierfür sollte ein sogenanntes "European Supply Security Office" aufgebaut werden, das Daten zu Lieferketten zur Verfügung stellt, Stresstests in vulnerablen Sektoren entwickelt und Vorschläge für Sicherheitsmaßnahmen erarbeitet, so das Beratungsgremium.
Grüne Leitmärkte statt Klimaschutzverträge
Um den Klimaschutz in der Industrie voranzutreiben, empfiehlt der Beirat grüne Leitmärkte als Mittel der Wahl. Damit könnten auch die Klimaschutzverträge, wie sie die Ampelregierung eingeführt hat, abgeschafft werden. Die Bundesregierung hat noch nicht über einen zweiten Förderaufruf entschieden. Der Beirat argumentiert, wenn die klimafreundliche Produktion im Rahmen grüner Leitmärkte nachweisbar zertifiziert würde, könnte z. B. grüner Stahl zu einem anderen Preis gehandelt werden als der traditionell hergestellte graue Stahl.
Wenn sich der Preis für den grünen Stahl auf einem Wettbewerbsmarkt bilde, kompensiere er die Grünstahl produzierenden Unternehmen für die Mehrkosten der klimaneutralen Produktion. Dieses marktwirtschaftliche Instrument sei effizienter als die staatliche Subventionierung grüner Produktion, weil der Staat die Kosten der Unternehmen nicht kennen muss. Allerdings müsse der Staat die Nachfrage nach der klimafreundlichen Produktion natürlich fördern, z. B. indem er seine Beschaffung auf klimafreundliche Produkte umstellt oder dem privaten Sektor Quoten vorgibt.
EU-Emissionshandel als zentraler Ansatz
Insgesamt plädiert der Beirat stark dafür, sämtliche klimapolitischen Instrumente am EU-Emissionshandel auszurichten. Spätestens mit Einführung des EU-ETS 2 ab 2027 würden knapp 90 Prozent der europäischen Emissionen durch die Handelssysteme abgedeckt, rechnet das Gutachten vor. Die Begrenzung der Anzahl der Zertifikate und die jährliche Reduktion der Zertifikatmenge stellten sicher, dass die europäischen Klimaziele in diesen Sektoren erreicht würden, heißt es weiter.
Industriepolitische Eingriffe seien vor diesem Hintergrund nur gerechtfertigt, da in der globalen Wirtschaft CO2-Preise in der Regel deutlich niedriger sind als in Europa. Europäische Unternehmen haben dadurch einen Nachteil im internationalen Wettbewerb. Der sich im Aufbau befindende Grenzausgleichsmechanismus CBAM - auch ein industriepolitisches Instrument - könne nur einen Teil der Nachteile auffangen. Dementsprechend sollten für exportierende Unternehmen andere Instrumente genutzt werden, damit sie weiterhin in Europa produzieren. Derzeit erfolgt dies über die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten. /lm