Flexibilität ist möglich - aber kein Selbstläufer
Essen (energate) - Neben der Dekarbonisierung gilt auch die Flexibilisierung der Industrie als Schlüsselkomponente für ein zukunftsfähiges Energiesystem. Die energieintensiven Unternehmen sind sich dessen bewusst. Doch zwischen Potenzial, politischen Erwartungen und betrieblicher Realität liegt ein komplexes Spannungsfeld. Das wurde bei einer Diskussionsrunde im Rahmen des energate-Forums "Industry meets Energy" auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen klar.
Mehr Lastverschiebung, aber nicht um jeden Preis
Industrievertreter machten deutlich: Flexibilität sei kein Selbstzweck, sondern müsse sich wirtschaftlich rechnen. Andreas Lützerath, Mitglied des Vorstands des Aluminiumherstellers Trimet, erinnerte an die frühen Engagements seines Unternehmens bei abschaltbaren Lasten. Er betonte aber auch: "Wir sind Aluminiumproduzenten, nicht Flexibilitätsdienstleister." Das Thema gewinne zwar durch steigende Strompreise an betrieblicher Relevanz, doch seien produktionstechnische Grenzen zu beachten. "Flexibilität darf keine Effizienzverluste oder Produktionsrisiken nach sich ziehen", so Lützerath.
Auch Alexander Kox, Geschäftsführer vom Beratungsunternehmen BET, betonte die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Mehrwerts: "Flexibilität muss sich lohnen, sonst bleibt sie ein Kostentreiber ohne Geschäftsmodell." In vielen Industrien, etwa der Chemie, seien technische Einschränkungen wie notwendige Druck- und Temperaturbedingungen Hürden für flexible Fahrweisen. Die Regelsetzung müsse dies berücksichtigen.
Viele Unternehmen sind für ihre Produktionsabläufe auf konstante Energiezufuhr angewiesen. An diesem Punkt sei Flexibilisierung nicht machbar, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK), Christian Seyfert. Auch arbeiteten Anlagen nicht mehr effizient, wenn sie ihre optimale Fahrweise aufgäben, um Flexibilitäten bereitzustellen.
Technisch machbar, aber aufwendig
Doch genau das Thema Effizienz ist für die Unternehmen ein bedeutendes. Aufgrund der mangelnden Wirtschaftlichkeit flexibilisierten daher viele Unternehmen ihre Produktion meist nicht, auch wenn dies technisch machbar sei. Denn technisch sei oft mehr möglich als angenommen - aber mit erheblichem Aufwand. So berichtete Anna Jasper-Martens, Geschäftsführerin von Eon Energy Infrastructure Solutions, von der erfolgreichen Umstellung eines Zementherstellers, bei dem auf drei Arten die Effizienz gesteigert wurde, sowohl in Bezug auf die Stromversorgung, die Abgabe von Fernwärme sowie die Rückführung von Wärme in den eigenen Prozess. Auch bei der Brauerei König habe in Kooperation mit Thyssenkrupp die Nutzung von Abwärme aus der Stahlproduktion die Prozesse beider Unternehmen effizienter gestaltet.
Kox unterstützte diesen Ansatz. "Wir arbeiten im Bereich der Dekarbonisierung von Industrieunternehmen und konnten durch Lastverschiebung ein Einsparpotenzial von 300.000 Euro im Jahr erzeugen", erklärte er. Dabei verschoben sie beispielsweise 10 MW der Last von den ersten und den letzten vier Stunden des Produktionstages in die Zeiten von 12 bis 16 Uhr, "in die Zeiten mit hoher Solareinspeisung". Flexibilität dürfe auch zulasten der Effizienz gehen, aber nur wenn es im richtigen Zeitfenster liege, betonte Kox. Effizienz müsse daher neu gedacht werden. Man müsse weg von dem Denken, dass jede vermiedene Kilowattstunde eine gute sei, gerade im Anblick der hohen Solarproduktion in den Mittagsstunden.
Gleichzeitig wurde deutlich, dass viele mittelständische Unternehmen noch an der Basis arbeiten, Daten zu erfassen, Prozesse zu analysieren und Potenziale zu identifizieren, wie Torge Lahrsen, Mitgründer und Geschäftsführer der Encentive, erläuterte. Eine flächendeckende Umsetzung der Flexibilisierung von Prozessen bedürfe Zeit, Know-how und geeigneter Partner, etwa für Schnittstellen zwischen Produktions- und Energiemarkt.
Politik und Regulierung in der Pflicht
Die Flexibilisierung der Industrie bietet zwar Hebel für Netzstabilität. Sie ist aber kein Allheilmittel und vor allem kein Selbstläufer, so der Tenor. Die Branche hofft bei den derzeit gemischten Entwicklungen in Bezug auf den veröffentlichten "Bidding Zone Review", den Stromausfall in Spanien und Portugal, aber auch die Wirtschaftsprognose vom scheidenden Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) aus Mitte März auf eine bald handlungsfähige Regierung.
"Es braucht Zeit, Investitionen und Mut", sagte VIK-Hauptgeschäftsführer Seyfert. Denn Unternehmen bräuchten vor allem mehr Zeit zum Umdenken und Planen ihrer Prozesse. Auch die Politik benötige Zeit, um rechtliche Anpassungen zu manifestieren. Die Flexibilisierung dürfe nicht zur Chimäre werden. Die Industrie könne nur dann zu einem gesunden Netz beitragen, wenn Rahmenbedingungen verlässlich und wirtschaftlich tragfähig seien. Netzentgelte, Steueranreize und die Ausgestaltung der §-14a-EnWG-Vorgaben seien entscheidend.
"Wir wollen Flexibilität anreizen, aber wir haben ein bestrafendes System. Wir müssen da ein förderndes System bekommen", mahnte Encentive-Geschäftsführer Lahrsen. Er forderte daher, bei Effizienzvorgaben umzudenken, die Regulatorik kompatibel zum Flexibilitätsbedarf zu gestalten und steuerliche sowie förderpolitische Anreize pragmatisch auszubauen. /hp