Der steinige Weg zum Industriestrompreis
Berlin (energate) - Ein Industriestrompreis soll Deutschlands kriselnder Schwerindustrie im internationalen Wettbewerb wieder auf die Beine helfen. Dessen Ausgestaltung ist ein nicht nur beihilferechtlich komplexes Unterfangen. Die Berliner Politikberatung Agora plädiert dafür, die Subvention an dem Stromgroßhandel zu orientieren. So äußerten sich Fabian Huneke und Paul Münnich im energate-Interview. "Wenn der Industriestrompreis an den Terminmarktpreis gekoppelt wird, werden Industriekunden befähigt, Strom weiterhin flexibel einzukaufen", sagte Huneke.
Er ist Projektleiter Energiewende im Stromsektor bei der Denkfabrik. "Das kommt besonders dem Mittelstand zugute", fügte er an. Sobald Großverbraucher keinen Absicherungsbedarf im Großhandel mehr hätten, erschwere diese Nachfrage "vor allem marktfinanzierten Erneuerbaren, ihre Preisrisiken abzusichern". Das spreche gegen einen fix gedeckelten Strompreis. Jüngste Appelle aus der Industrie trommeln für einen Fixpreis von 5 Cent/kWh.
Agora Energiewende und ihre Ausgründung Agora Industrie empfehlen ferner, Energieeffizienz-Benchmarks als zusätzliches Anreizsystem zu implementieren, ebenso wie Anreize, Flexibilitätspotenziale zu heben. "Deshalb ist es richtig, dass laut den neuen EU-CISAF-Beihilferichtlinien die Hälfte der Förderung in solche Technologien fließen soll." Letztere EU-Richtlinien geben klare Leitplanken vor. Das allerdings nur auf Zeit. Weil die Vorgaben auf drei Jahre beschränkt sind und 2030 auslaufen, sei damit lediglich ein Brückenstrompreis möglich - als Vehikel für eine längerfristige Lösung. Zu wenig für Investitionsentscheidungen seitens der Industrie, monierte Paul Münnich, Projektleiter Chemie und Elektrifizierung der Industrie bei Agora Industrie.
Agora: Zeitgewinn durch EU-"Brückenstrompreis" dringend nutzen
Sein Appell: "Die Zeit muss gezielt genutzt werden, um Unternehmen bei der Transformation zu unterstützen." Einen ähnlichen Standpunkt vertrat unlängst auch die Fachanwältin Sandra Talhof, Partnerin der auf Energie- und Klimarecht spezialisierten Kanzlei Ziska & Talhof, in einem energate-Gastkommentar: "Der Gesetzgeber muss diese drei Jahre dringend nutzen, um strukturelle Probleme zu beseitigen und die Stromkosten nachhaltig herabzusenken." Ansonsten stünde die Industrie hierzulande nach besagten drei Jahren "wieder am Anfang", warnte sie. Ihr Rat: "Mit der Gesetzgebung rund um die Energiepreisbremsen als Mahnung im Gepäck sollten Unternehmen über ihre Branchenverbände ihre wertvolle Praxissicht in das Gesetzgebungsverfahren einbringen."
Politik und Industrie spüren Zeitdruck
Der Zeitdruck, unter den die Politik und die Industrie zusehends geraten, ist ohnehin groß. Einzelne besonders energieintensive Industriezweige haben längst begonnen, ihre Produktionskapazitäten in Deutschland aus Kostengründen einzudampfen oder große Dekarbonisierungsvorhaben auf Eis zu legen. Das schlägt zum Teil auch auf die Wärmewende- und Wasserstoffpläne einzelner Kommunen durch. "Wirtschaft stärken" rangiert auch deshalb ganz weit oben auf der politischen Agenda der schwarz-roten Bundesregierung. Unstrittig in der Debatte um die Ausgestaltung des Industriestrompreises scheint derzeit, dass eine staatliche Subvention allein das Energiekostenproblem der Grundstoffindustriezweige Chemie, Glas oder Stahl nicht löst. Dies steht zugleich seit Längerem im Forderungskatalog des Industrieverbands BDI zum Industriestrompreis. Dazu passend ist der Industriestrompreis neben der viel diskutierten Stromsteuersenkung eine von mehreren Entlastungsmaßnahmen für das produzierende Gewerbe.
Berater sehen "widersprüchliche politische Signale" aus Berlin
Die Experten der Berliner Denkfabrik sehen allerdings Nachsteuerungsbedarf beim gegenwärtigen Kurs der Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU): Dass parallel zur Einführung eines Industriestrompreises die Übernahme der Gasspeicherumlage in den Klimatransformationsfonds geplant ist, sende "ein widersprüchliches Signal", so die Experten. "Das konterkariert die Klimaziele." Stattdessen sollte "eine Stromsteuersenkung für alle kombiniert werden mit einem Industriestrompreis".
Zudem brachen die Agora-Experten im energate-Interview auch eine Lanze für die von der Vorgängerregierung initiierten Klimaschutzverträge als "kosteneffiziente und zielgerichtete Alternative zum Industriestrompreis".
Energiewende-Monitoring sorgt für Unruhe in der Erneuerbarenbranche
Der größte Hebel, die Energiebeschaffung langfristig kostengünstiger zu gestalten, sei indes der Erneuerbarenausbau. Hält die neue Regierung am bisherigen Ausbaupfad fest, werde dies den Strompreis um 23 Prozent senken, prognostizieren die Agora-Experten.
Ob und wie sehr die Bundesregierung am bisherigen Ausbaupfad festhält, soll ein von Wirtschaftsministerin Reiche beauftragtes Energiewende-Monitoring zeigen. In der Windkraftbranche blickt man mit gespannter Unruhe auf das Vorhaben. Obwohl der Windkraftausbau in der ersten Jahreshälfte den 2030er-Zielen hinterherhinkt, warnt der Bundesverband Windenergie davor, die Zielsetzung abzusenken. Eines seiner Argumente: Der Ökostrombedarf aus Industrie und Rechenzentren werde absehbar stark ansteigen. /pa
Das Interview mit Fabian Huneke und Paul Münnich lesen Sie im heutigen Add-on Markt & Industrie. Im kommenden energate-talk am 6. August um 15 Uhr widmen wir uns der Debatte um die Energiekostensenkung für das produzierende Gewerbe. Die Gesprächsrunde mit Experten aus Energiewirtschaft und Industrie steht unter dem Motto Industriestrompreis: Brücke in die Zukunft oder Bruch mit dem Markt.