Bis zu 36 GW steuerbare Kapazitäten bis 2035 nötig
Berlin/Bonn (energate) - Der Bedarf an steuerbaren Stromerzeugungskapazitäten ist womöglich noch größer als bislang angenommen. Laut dem neuen Versorgungssicherheitsbericht der Bundesnetzagentur werden bis 2035 je nach Szenario zwischen 22,4 und 35,5 GW zusätzliche steuerbare Kapazitäten benötigt. Zugleich warnt die Behörde in dem Bericht: Ohne Back-up könnte es schon 2030 zu Versorgungslücken kommen. Die bereits von der Ampel-Koalition geplante Kraftwerksstrategie werde nicht ausreichen, ein zusätzlicher Kapazitätsmarkt sei notwendig. Die Bundesregierung hat den Bericht am 3. September beschlossen und veröffentlicht. Während das Bundeswirtschaftsministerium den Bedarf vor allem mit neuen Gaskraftwerken decken will, spricht die Bundesnetzagentur allgemein von steuerbaren Kapazitäten und betont die Bedeutung von Flexibilitäten, Speichern und Netzausbau.
Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) sagte, die sichere Stromversorgung sei zentral für die Wettbewerbsfähigkeit. Unternehmen und Verbraucher müssten sich jederzeit auf Versorgung verlassen können. Das Netz dürfe nicht "auf Kante genäht" werden. Der Bericht zeige, dass Handlungsbedarf bestehe und neue steuerbare Kapazitäten notwendig seien, insbesondere neue Gaskraftwerke. "Wir müssen deshalb die Kraftwerksstrategie mit Hochdruck vorantreiben und so schnell wie möglich steuerbare Leistung zubauen", so Reiche.
Müller: Monitoring unterstreicht Bedeutung der Kraftwerksstrategie
Die Bundesnetzagentur formuliert eine neutrale Position. Präsident Klaus Müller erklärte, die Stromversorgung sei auch in Zukunft sicher, wenn zusätzliche steuerbare Kapazitäten errichtet würden. Das Monitoring unterstreiche die Bedeutung der geplanten Kraftwerksstrategie. Die weiteren notwendigen Kapazitäten sollten laut Müller über einen Kapazitätsmechanismus bereitgestellt werden. Außerdem sei wichtig, "dass immer mehr Stromverbraucher flexibel auf Strompreise reagieren".
Der Bericht zur Versorgungssicherheit untersucht zwei Szenarien. Das Zielszenario geht davon aus, dass die Ausbauziele bei erneuerbaren Energien, Flexibilitäten und Netzen erreicht werden. In diesem Fall liege der Bedarf bei 22,4 GW. Als Flexibilitäten nennt der Bericht insbesondere Elektroautos, Wärmepumpen und Elektrolyseure, die ihren Strombezug an Preissignale anpassen können. Zudem seien Batteriespeicher, die kurzfristig steuerbare Leistung bereitstellen, eine weitere Flexibitätsoption.
Im Szenario "Verzögerte Energiewende" mit langsameren Ausbauten und geringerer Nachfrageflexibilität steigt der Bedarf an gesicherten Kapazitäten auf 35,5 GW. In seltenen Fällen könne es dann bereits 2030 zu Situationen kommen, in denen der Strommarkt die Nachfrage nicht vollständig decke, gibt die Netzagentur zu bedenken. Dann müssten Reserven außerhalb des Marktes eingesetzt werden.
Konventionelle Kraftwerke weiter wichtig
Das Verzögerungsszenario zeige, dass ausbleibende Fortschritte bei Flexibilitäten und Speichern zu einer deutlich höheren Nachfrage nach steuerbaren Kapazitäten führen würden, resümiert die Bundesnetzagentur in dem Bericht. Die Behörde betont zudem, dass konventionelle regelbare Kraftwerke weiterhin ein notwendiger Bestandteil eines sicheren Systems seien, verweist aber gleichzeitig auf unzureichende Investitionen in diesem Bereich. Ferner würden Redispatchmaßnahmen in den kommenden Jahren notwendig bleiben.
Ergänzend hebt die Bundesnetzagentur hervor, dass der dynamische Ausbau erneuerbarer Energien, die Integration von Speichern sowie der schnelle Netzausbau unverzichtbar sind, um die Versorgungssicherheit langfristig zu gewährleisten. Auch der europäische Stromhandel und ein beschleunigter Netzausbau blieben zentrale Faktoren. Bereits das Monitoring 2022 hatte einen zusätzlichen Bedarf von 17 bis 21 GW bis 2030 ausgewiesen - seither ist der erwartete Zubau noch einmal gestiegen.
Reiche wird "zum Risiko für die Versorgungssicherheit"
Der Bericht rief in der Politik und der Energiewirtschaft eine Vielzahl von Reaktionen hervor. Michael Kellner, energiepolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, sah bestätigt, dass "entgegen allen Unkenrufen" die Versorgungssicherheit gewährleistet sei. Der Bericht zeige sogar, dass eine Verzögerung beim Ausbau der Erneuerbaren zu einer Versorgungslücke führen würde. Wirtschaftsministerin Reiche werde mit ihren wiederholten Vorstößen gegen den Ausbau der Erneuerbaren "zum Risiko für die Versorgungssicherheit". Den Bau überdimensionierter, teurer Gaskraftwerke bezeichnete Kellner als grobe Fehlinterpretation. Stattdessen brauche es die Umsetzung der von Amtsvorgänger Robert Habeck (Grüne) vorgeschlagenen Kraftwerksstrategie mit verpflichtender Umrüstung auf Wasserstoff.
Auch aus der Branche kamen mahnende Stimmen. Der Energieverband BDEW warnte, dass bis 2038 viele Kohle- und alte Gaskraftwerke vom Markt gingen und eine Versorgungslücke drohe. Notwendig seien neue steuerbare Kapazitäten wie H2-ready-Gaskraftwerke, KWK-Anlagen sowie Speicher. Ausschreibungen dafür müssten "spätestens bis Anfang 2026" erfolgen. Zudem forderte der BDEW einen technologieoffenen Kapazitätsmarkt, um Neubau und Erhalt bestehender Anlagen zu sichern.
Auch der VKU mahnte den dringenden Ausbau von Gaskraftwerken und KWK-Anlagen an, um Dunkelflauten abzusichern. Zudem forderte der Verband einen Kapazitätsmarkt, KWK-Reformen und klare Ausschreibungen, um Flexibilität zu honorieren und Überkapazitäten zu vermeiden. Der BNE kritisierte die fehlende Digitalisierung und den langsamen Smart-Meter-Rollout, die den Einsatz von Speichern und Flexibilitäten behindern. Verbandschef Robert Busch forderte schnelle Reformen, klare Pflichten für Netzbetreiber und marktgetriebene Anreize für Speicher, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
"Modellierungslücke" mache Bericht nahezu wertlos
Carsten Pfeiffer, Leiter Strategie und Politik beim BNE, kritisierte auf der Plattform LinkedIn scharf, dass die Bundesnetzagentur in dem Bericht nur den aktuellen Stand der Batteriegroßspeicher fortschreiben würde und künftige Entwicklungen ausblende. Diese "Modellierungslücke" mache den Bericht nahezu wertlos und stelle grundlegende Aussagen zu künftigen Kapazitätsbedarfen und Kraftwerksausschreibungen infrage.
Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung des Übertragungsnetzbetreibers 50Hertz, sagte, es brauche dringend neue Kraftwerke, die gesicherte Stromerzeugungsleistung bereitstellen könnten. Besonders wichtig sei, dass diese an netzdienlichen Standorten errichtet würden, etwa auch in Ostdeutschland - also in der Regelzone von 50 Hertz. Der Bericht betone zwar die Bedeutung von Batteriespeichern, entscheidend sei aber, dass sie an den richtigen Standorten angeschlossen würden. Dafür brauche es ein neues Netzanschlussverfahren, da Speicher sonst belastend statt entlastend wirken könnten, so Kapferer. /mh
Den Bericht der Bundesnetzagentur können Sie hier herunterladen.