Strommarkt droht bereits 2028 Versorgungslücke
Berlin (energate) - Das heutige Niveau der Versorgungssicherheit könnte unter rein marktlichen Bedingungen bereits 2028 gefährdet sein. Davor warnten Hendrik Neumann, Technikvorstand des Übertragungsnetzbetreibers Amprion, und der Umweltökonom Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum im energate-Doppelinterview. "Je länger der Bau neuer Gaskraftwerke dauert, desto stärker muss man auf alte Reservekraftwerke zurückgreifen", sagte Neumann. Löschel forderte zugleich, neue Kapazitäten schnell auf den Markt zu bringen, und plädierte für pragmatische Lösungen mit möglichst wenigen zusätzlichen Kosten. "Für die Deckung von Versorgungslücken könnten kurzfristig und in geringem Maße auch erst einmal Brot-und-Butter-Kraftwerke die praktikabelste Lösung sein." Dabei gelte: So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Die Zeit werde immer knapper. "Und der Kohleausstieg ist ja auch noch zu schaffen", gab der Ökonom zu bedenken.
Positive Reaktionen auf Monitoring
Die jüngsten Ergebnisse des Energiewende-Monitorings bewerteten Neumann und Löschel im Interview grundsätzlich positiv. Amprion-CTO Neumann erklärte, dass es weniger um einen Neustart als vielmehr um einen "kontinuierlichen Realitätscheck" gehe. Besonders beim Thema gesicherte Leistung müssten nun schnell konkrete Maßnahmen folgen. Neue Kapazitäten sollten zügig ausgeschrieben werden, um die Versorgungssicherheit in Deutschland auf dem aktuellen Niveau zu halten. Auch Löschel zeigte sich überzeugt, dass die Bestandsaufnahme der Bundesregierung richtig und wichtig sei. Allerdings blieben die politischen Schlussfolgerungen von Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) recht allgemein. Entscheidend werde nun sein, wie sich Konzepte wie systemisches Denken oder Kosteneffizienz in konkrete Maßnahmen übersetzen ließen - sei es beim Netzausbau, bei neuen Kraftwerken oder beim Wasserstoffhochlauf.
Mit Blick auf die Netze verwies Neumann auf die Systemkosten als entscheidenden Faktor für die Bezahlbarkeit der Transformation. Netz- und Systemdienlichkeit müssten bei Batteriespeichern und Elektrolyseuren stärker in den Fokus rücken. Löschel ergänzte, dass die ökonomischen Rahmenbedingungen bislang nicht stimmten: "Derzeit passt es in vielen Bereichen einfach noch nicht." Grüne Energie müsse günstiger werden, nur so könnten viele komplizierte Einzelregelungen entfallen.
Zuschuss zu Netzentgelten kurzfristig sinnvoll
In der Debatte um Netzentgelte sah Neumann die derzeitige Entlastung über staatliche Zuschüsse als kurzfristig sinnvoll an. Langfristig müsse jedoch die Netzentgeltsystematik überarbeitet werden, damit nicht allein die Verbraucher die Transformationskosten tragen müssten. Löschel sprach sich dafür aus, Erlöse aus der CO2-Bepreisung zur Finanzierung von Netzkosten zu nutzen.
Kritisch äußerten sich beide zu einem möglichen Strompreiszonen-Split. Während Löschel differenzierte Preissignale grundsätzlich für sinnvoll hält, bemängelte er das Fehlen konkreter Umsetzungsvorschläge. Neumann sah den Kostensenkungseffekt einer Aufteilung der bundeseinheitlichen Stromgebotszone als gering an und verwies auf den Netzausbau als eigentlichen Hebel zur Kostensenkung.
"Future Transmission Lab" soll Netzausbau begleiten
energate hat Löschel und Neumann bei einer Veranstaltung des "Future Transmission Lab" getroffen. Mit dem 2023 von Amprion initiierten Projekt haben Wissenschaft und Praxis eine gemeinsame Plattform geschaffen, um den beschleunigten Netzausbau in Deutschland wissenschaftlich zu begleiten. Das Vorhaben bringt Expertise aus Technik, Energiemärkten, Raumplanung, KI, Fernerkundung und Rechtswissenschaften zusammen. Ziel ist es, die Energiewende interdisziplinär zu analysieren und konkrete Handlungsempfehlungen zu erarbeiten. /mh
Das gesamte Doppelinterview mit Hendrik Neumann und Andreas Löschel lesen Sie im Add-on Strom.